„Ostdeutschland ist meine Heimat“

Ein Interview mit Domenico Müllensiefen

Der Autor Domenico Müllensiefen mit kurzem blonden Haar und Brille, einem Jackett auf senffarbenem Pullover

Wie Domenico Müllensiefen zum Schreiben kam und warum er kein Osterklärer sein möchte, über die Altmark, in der Marcel, die Hauptfigur seines aktuellen Romans „Schnall dich an, es geht los“, lebt, und über Steffi, Marcels große Liebe – darüber gibt der Autor im Interview mit Gabi Schulze Auskunft.

Auch wenn folgende Frage immer wieder Autorinnen und Autoren gestellt wird: Wie sind Sie zum Schreiben gekommen?

Ein Leben ohne Literatur ist für mich nicht vorstellbar. In meiner Jugend ging ich viel in Buchläden und nahm mit, was mir gerade so in die Finger kam. Es gab Wochen, in denen ich neben der Arbeit zwei bis drei Bücher las. Das war nicht unbedingt die Literatur, die wir als Hochkultur bezeichnen würden. Ich las Terry Pratchett, John Grisham und Douglas Adams. Später entdeckte ich dann Sven Regener, Michel Houellebecq und Clemens Meyer. Als ich zwanzig war, hatte ich dann einen Bürojob, in dem es nichts zu tun gab. Gar nichts. Mit fünf Kollegen saß ich in einem großen Raum, wir hatten alle einen Computer und es gab keine Aufgaben für uns. Ein Kollege neben mir las Perry Rhodan-Romane, andere rauchten eine Zigarette nach der anderen oder wir saßen unsere Zeit in der Kantine ab. Ich hatte die Langeweile ausgiebig genutzt und nervte andere User im damaligen Forum von www.laut.de. Darin war ich richtig gut, aber auch das wurde irgendwann langweilig und dann fing ich an, eine Geschichte über einen Typen zu schreiben, der im Knast saß und früher eine Punkband hatte. Das war keine Hochliteratur, ganz im Gegenteil, aber es waren die Anfänge meines Schreibens.

Sie sind ausgebildeter Systemelektroniker, haben als Bauleiter und als Bestatter gearbeitet. Sie haben aber auch einen Masterabschluss am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Beides hat ihnen geholfen, Romane zu schreiben. Ist das richtig?

Ja.

Ihre Hauptfigur Marcel ist dem Leser sympathisch, weil er zu den so genannten kleinen Leuten gehört, weil er sehr sozial ist und eine warmherzige Art hat. Was ist Marcel für ein Mensch?

Marcel ist naiv. Er sieht in allen anderen Menschen erst einmal die positiven Eigenschaften. Er opfert sich für andere auf und erwartet keinerlei Gegenleistung dafür. Ich glaube, wenn es mehr Marcels geben würde, wäre unsere Gesellschaft in der Summe ein ganzes Stück freundlicher. Und gleichzeitig würde es jede Menge Menschen geben, die versuchen würden diese Marcels auszunutzen. Und das ist der Weg, den Marcel geht: Er lernt, dass er nicht immer den Kopf für andere hinhalten muss, dass er seine eigenen Wünsche formulieren und sich auch mal durchsetzen darf.

Steffi ist Marcels große Liebe, auch so eine Art Hoffnung, dass alles gut wird. Sie ist in den 90er Jahren plötzlich verschwunden und kommt 2023 wieder in die Altmark zurück. Welche Rolle spielt sie in Ihrem Roman?

Sie haben das gut erkannt. Steffi ist die große Liebe, der Marcel auch zwanzig Jahre später noch nachtrauert. Diese Liebe konnte er nie verarbeiten oder gar mit ihr abschließen und seinen Frieden machen. Und so denkt Marcel natürlich, dass es irgendwas mit ihm zu tun haben muss, dass sie wieder auftaucht. Auch das lernt Marcel in dem Roman: Es gibt eine Zukunft, die nicht zwangsläufig die Vergangenheit nachstellen oder wiederholen muss.

Marcels Beziehung zu seinem Vater ändert sich im Laufe der Jahre. Können Sie diese Beziehung beschreiben?

Der Vater ist, und da ähnelt er vielleicht Steffi, eine Überfigur, die von Marcel bedingungslos geliebt und permanent überhöht wird. Aber auch das ändert sich, Marcels Perspektive ist am Ende des Romans eine vollkommen andere. Ich möchte an dieser Stelle aber nicht zu viel verraten, da es sonst vielleicht zu wenig Gründe gibt, das Buch selbst zu lesen.

Sie erzählen in zwei Zeitebenen, die eine von 1993 bis 2003, da ist Marcel Kind bzw. Teenager, die andere geht von Frühjahr bis Herbst 2023. Warum haben Sie diese Erzählweise gewählt?

Zu Beginn der Arbeit für „Schnall dich an, es geht los“ schrieb ich Miniaturen, in denen ich die Figuren mit alltäglichen Situationen konfrontierte. Zum Beispiel gab es eine Szene, in der Marcel auf einem Plastikstuhl saß und Pascal an einem alten Golf herumschraubte. Diese Szene hat es nie in den Gesamttext geschafft, half mir aber, das gegenwärtige Verhältnis der beiden zueinander zu verstehen. Ich hatte viele solcher kleinen Szenen geschrieben, ein paar davon schafften es dann in den Roman, viele nicht. Irgendwann hatte ich dann den Punkt erreicht, dass ich sehr viel Textmaterial für die Gegenwart hatte, aber dennoch nicht so richtig vorankam. Manchmal verstand ich sogar das Handeln meiner eigenen Figuren nicht. In diesem Moment begriff ich, dass ich in die Kindheit und Jugend der Figuren zurückgehen muss. Auch hier arbeitete ich viel in Miniaturen und lernte mit dieser Herangehensweise nach und nach meine Charaktere immer besser kennen. Ja, und dann ist da irgendwann ein ganzer Roman draus entstanden, der in zwei Zeitebenen funktioniert.

Ihr Roman liest sich wie eine Antwort auf die Frage, warum 35 Jahre nach dem Mauerfall die Spaltung Deutschlands in Ost und West stärker denn je ist. Ich weiß, Sie wollen kein Osterklärer sein. Trotzdem: Dieses Thema „Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung“ beschäftigt sie ja sehr. Warum?

Ostdeutschland ist meine Heimat. Ich lebe seit bald 38 Jahren in Ostdeutschland und es gibt genug Stoff, um hunderte Romane daraus stricken zu können. Also schreibe ich darüber. Aber ich bin nur eine Perspektive. Es gibt viele andere Autorinnen und Autoren, deren Perspektiven genauso berichtenswert sind: Johannes Herwig, Jackie Thomae, Paula Fürstenberg, Charlotte Gneuß, Lukas Rietzschel, Daniel Schulz, Patricia Hempel. All diese Autorinnen und Autoren haben wirklich große Romane geschrieben, die das Leben im wiedervereinigten Deutschland zeigen.
Es gibt mehrere Gründe, warum ich kein Osterklärer sein möchte, einer davon ist, dass meine Perspektive viel zu begrenzt ist, um irgendwas generalisierend erklären zu können. Vielleicht ist es in der Summe der genannten Autorinnen und Autoren möglich, aber auch da habe ich meine Zweifel. Die Bevölkerung der neuen Bundesländer ist vielfältig und heterogen. Ich wünsche mir, dass diese Vielstimmigkeit, in all ihren Widersprüchen und Brüchen, mehr in den Debatten gezeigt wird.

Eine letzte Frage: Wie kam es zu dem Titel des Romans „Schnall dich an, es geht los“?

Naja. Wir brauchten einen Titel, der richtig gut klingt. Und das war dann das Ergebnis.

Vielen Dank für das Interview, Herr Müllensiefen!

Zum Autor

Domenico Müllensiefen, 1987 in Magdeburg geboren, ist auf einem Bauernhof in der Altmark aufgewachsen. Mit 16 hat er eine Lehre zum Systemelektroniker absolviert und als Techniker gearbeitet, bevor er am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studiert hat. Während seines Studiums jobbte er als Bestatter und war jahrelang Bauleiter, bevor 2022 sein Debütroman „Aus unseren Feuern“ erschien. „Schnall dich an, es geht los“ ist sein zweiter Roman.

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