Péter Iván ist Nutzer des dzb lesen. Das Besondere: Er ist Ungar und liest bzw. hört die Bücher auf Deutsch. Im Interview erzählt der Budapester, der italienische Sprache und Kultur studierte und seit 2005 als medizinischer Masseur in dem berühmten Széchenyi-Bad tätig ist, über seine Arbeit, seine Heimatstadt Budapest, seinen Alltag als Vater einer sechsjährigen Tochter und seinen größten Wunsch, in Deutschland zu leben.
Sind Sie geburtsblind oder späterblindet?
Ich bin endgültig 2009 im Alter von 33 Jahren infolge eines Glaukoms erblindet. Der Prozess der Erblindung vollzog sich langsam, so dass ich mich auf das Blindsein einstellen konnte und genügend Zeit hatte, mich mit einem Mobilitätstraining darauf vorzubereiten. Was natürlich nicht heißt, dass ich keine Probleme mit der Erblindung hatte.
Wo sind Sie geboren und wo leben Sie heute?
Ich bin Budapester, 43 Jahre alt, hoch gewachsen, dunkel: ein netter Blinder mit Langstock und Sonnenbrille. Ich habe eine sechsjährige Tochter namens Abigel. Meine Frau ist Bibliothekarin, Fotografin und englischsprachige Medienleiterin in einer wichtigen Bücherei.
Was gefällt Ihnen an Ihrer Arbeit?
Masseur sein ist einfach Klasse. Ich wusste von Anfang an, dass ich keine sitzende Tätigkeit wollte. Als Masseur muss man sich ständig bewegen. Es ist eben eine aktionsreiche, fast tanzende Arbeit. Ich scheue keine Mühe! Masseure arbeiten mit ihrem ganzen Körper. Optimal holen wir aus uns so viel Energie heraus, wie wir für die Behandlung brauchen.
Es ist ein vielseitiger Beruf: Man muss nicht nur ein guter Anatom und Diagnostiker sein, sondern auch ein kreativer Spezialist, ein freundlicher Gastgeber, humorvoller Gesellschafter, ein aufmerksamer Psychologe und allwissender Gesundheitsratgeber. Meine einzige Regel ist aber: nur keine Plauderei während der Behandlung! Péter Iván ist kein Rabenmasseur, der die Behandlungszeit seiner Gäste stiehlt! Am Ende der Massage gehen die Patienten tatsächlich in einem besseren Zustand nach Hause. Ich bin mir sicher, dass die Massage bei den Patienten wirkt. Und wenn ich Relaxtherapien mache, sind optimal sowohl Patient als auch Masseur im Ruhezustand…
Im Széchenyi-Bad empfangen wir viele deutsche Badegäste. Sie sind immer nett und höflich: keine typischen Problemgäste. Deutsche schätzen gute Massage sehr und sind außergewöhnlich entspannungsfähig. Hätten Sie das wohl gedacht?
Sie tragen mit Ihren Massagen dazu bei, dass andere entspannen können. Wie entspannen Sie sich selbst?
Ich bin ein „Hardcore“-Saunaliebhaber und Schwimmer. Alle diese „Sportarten“ treibe ich in unserem Bad. Ich würde gern auch joggen, aber die wenige Zeit und der fehlende Sportfreund erlauben leider nicht mehr.
Wagehalsig durch das chaotische Budapest
Welche Sehenswürdigkeiten in Budapest können Sie uns empfehlen?
Budapest ist eine eklektische Hauptstadt von atemberaubender Lage. Sie hat ein abwechslungsreiches Stadtbild und an jeder Straßenecke eine lebendige Geschichte. Ich kenne Touristen, die ihr völlig ergeben sind. Na, so was! Für mich Einheimischen gibt es in Budapest immer mehr beängstigende Zeichen. Die Stadt ist zusehends immer chaotischer und verdreckter und überfüllt mit angespannten Einwohnern. Politik beiseite: Ein Tourist kann hier wunderbare Tage verbringen.
Sehenswürdigkeiten? Mein Tipp: Nehmen Sie nie einen Blinden als Reisebegleiter. Für mich ist selbst das außergewöhnlichste Gebäude der Welt nicht mehr als ein Orientierungspunkt, der schönste Stadtpark nur ein verwirrender Irrgarten.
Meine Familie und ich nehmen gerade Abschied von Budapest. Grund dafür ist der missliche Zustand des Landes. Anfang 2020 werde ich mir eine neue Arbeit in einem Bad in Deutschland suchen und im Sommer sind wir hoffentlich schon weg aus Budapest, so wie der größte Teil unserer Freunde.
Wie barrierefrei ist die Stadt für Blinde und Sehbehinderte?
Die ungarische Hauptstadt ist nicht ausgesprochen barrierefrei. Eben deshalb sind wir ungarischen Blinden keine zartbesaiteten Menschen. Wir müssen immer erfinderisch und wagehalsig sein, um unseren Weg zu finden. Na, und wer mag eigentlich nicht kleine tägliche Herausforderungen?
Wie sieht ein ganz normaler Tag im Alltag Ihrer Familie aus?
Dank meiner wechselnden Schichten, kann ich meine Tochter in den Kindergarten bringen bzw. sie wieder abholen. Wenn sie kein Karate- oder Schwimmtraining hat, gehen wir nach Hause. Warum nicht auf den Spielplatz? Kinder verbringen täglich sieben bis acht Stunden unter Altersgenossen. Der Nachmittag ist Erwachsenenzeit! Abends spielen wir, hören Hörspiele, lernen etwas Neues oder machen zusammen Hausarbeit. Vor allem aber unterhalten wir uns ungeheuer viel. Wenn wir unser Töchterchen gegen neun Uhr in den Schlaf gesungen haben, kommt der aufregendste Teil des Abends. Na ja, wir lernen Deutsch. Besser gesagt, wir sprechen über problematische grammatische Fälle, sehen die deutsche Tageschau und reden auf Deutsch. Wir wollen bis Sommer 2020 unseren Berufswortschatz erweitern. Wir sprechen verschiedene Sprachen und können Fremdsprachen effizient erlernen.
Ein Bücherwurm im siebenten Himmel
Welche Bücher lesen Sie am liebsten und wie lesen Sie diese?
Ich lese jährlich 50 bis 60 Hörbücher, am allerliebsten sprachwissenschaftliche und medizinische Sachliteratur, genieße aber auch die Belletristik in vollen Zügen. Zeitschriften? Nur die großartig redigierte und geschriebene „in puncto dzb lesen”.
Es gibt zwei deutsche Romane, die ich von Zeit zu Zeit immer wieder lesen muss: „Homo Faber” von Max Frisch und „Das doppelte Lottchen“ von Erich Kästner. Zwei Meisterwerke, die ich fast auswendig kenne und es trotzdem immer wieder etwas Neues gibt. Ich lese die ungarische Brailleschrift ziemlich flott, englische Kurzschrift langsam, deutsche Kurzschrift noch im Schneckentempo. Deshalb ist das Hören von Büchern für mich effektiver und schneller.
Warum haben Sie sich im dzb lesen (früher DZB) angemeldet?
Ich war zunächst Kunde von Audible.de. Aber ich habe dort kaum Hörbücher gefunden, die mich interessieren. Audible verkauft größtenteils leider nur Krimis, Zombie-Liebesromane oder barbarisch gekürzte Klassiker.
Hingegen finde ich im dzb lesen jede Art von Literatur. Das ist der siebente Himmel für jeden Bücherwurm! Ich bin ein frisch gebackener Nutzer und höre fast ausschließlich Hörbücher in deutscher Sprache. Ich bin begeistert von den professionellen Aufnahmen und den kompetenten Sprechern. Und dazu die geniale IOS-App! Stellen Sie sich vor, ich habe mehr als 70 Titel auf meinem Merkzettel.
Welche Bücher leihen Sie sich aus?
Ich höre immer mehrere Titel zugleich. Derzeitig lese ich unterwegs zur Arbeit ein paar Absätze von einem Myoreflextherapie-Lehrbuch, das mich beruflich interessiert. In der Mittagspause verbringe ich eine halbe Stunde mit „Heraus mit der Sprache“, ein geistreiches und witziges Buch von Andreas Thalmayr über die deutsche Sprache. Wenn ich das lese, weiß ich allerdings, dass ich dieses gottbegnadete Deutsch niemals richtig erlernen kann.
Außerdem höre ich ein drittes Hörbuch, Christoph Heins „Der Tangospieler“, ein richtiger Leipziger DDR-Roman. Herr Hein formuliert jeden seiner Sätze klar und deutlich, wie Lesestücke aus einem Sprachlehrbuch. Wenn ich das Buch lese, hoffe ich, dass ich dieses gottbegnadete Deutsch eines Tages wirklich noch erlernen kann.
Welchen Wunsch werden Sie sich in naher Zukunft erfüllen?
Wir arbeiten hart daran, dass unsere Tochter nächstes Jahr im September den Grundschulunterricht in Deutschland beginnen kann und wir Eltern unseren Beruf dort fortsetzen können. Unsere „Traumbundesländer“ sind Thüringen und Sachsen. Aber man kann im Voraus nie wissen, wo wir unseren neuen Wohnsitz finden werden.
Vielen Dank, Herr Iván, und alles Gute!