Janine und Jessica L. (31 Jahre) sind eineiige Zwillinge und wohnen in der Nähe von Kempten im Allgäu. Schon in der Schule lernten sie gemeinsam in einer Klasse und auch gegenwärtig sind sie beim gleichen Arbeitgeber tätig. Sie hören beide gern Musik und verreisen zusammen, am liebsten nach Großbritannien und Irland. Vor allem aber lesen sie gern englischsprachige Literatur. Sie lieben die englische Sprache, haben sie sogar studiert und ihr Staatsexamen als Übersetzerinnen absolviert. Ihr allererstes englisches Braillebuch lasen sie bei einer Gastfamilie in Irland. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland haben sie sich sofort in der Bibliothek des RNIB (Royal National Institute of Blind People) angemeldet. Seit circa sieben Jahren beziehen sie englischsprachige Braillebücher direkt aus Großbritannien.
Im Februar dieses Jahres teilte ihnen RNIB mit, dass das Institut seinen Service aufgrund fehlender finanzieller Mittel ab sofort auf das Inland beschränkt und keine Bücher mehr nach Europa verschickt. „Das war für uns ein riesiger Schock“, meint Janine. „Wir haben fieberhaft überlegt, was wir machen können, und wandten uns mit unserem Anliegen an das dzb lesen. Dort hat uns Frau Felsmann dann nach ein paar Tagen die frohe Botschaft überbracht, dass das Ausleihen englischsprachiger Bücher tatsächlich zukünftig über das dzb lesen möglich sein wird.“ Jessica ergänzt: „Wir konnten unser Glück kaum fassen! Wir wussten zwar, dass das dzb lesen bereits davor vereinzelt englische Bücher im Angebot hatte, aber dies waren, soweit wir das beurteilen konnten, nur sehr wenige und hauptsächlich bekannte Klassiker.“
Die Lösung: Austausch digitaler Daten
Knapp 100 englischsprachige Titel sind bis jetzt im Bestand des dzb lesen. Dazu gehören vor allem Klassiker, wie William Shakespeare, Charles Dickens und Agatha Christie. „Das wird sich ändern und immer mehr aktuelle englischsprachige Bücher können angeboten werden“, sagt Christiane Felsmann, Leiterin Bibliothek, Beratung und Verkauf. Sie ist Mitglied der LPD (Libraries Serving Persons with Print Disabilities Section), einer Arbeitsgruppe, die innerhalb der IFLA (Internationale Vereinigung der Bibliotheksverbände) Spezialbibliotheken für blinde und sehbehinderte Menschen auf der ganzen Welt vereint. Nach einigen Telefonaten mit den zuständigen Personen aus ihrer Arbeitsgruppe konnte die unbefriedigende Situation der Ausleihe geklärt und eine Lösung gefunden werden. „Es freut mich, dass wir uns mit den Kolleginnen und Kollegen beim RNIB in Großbritannien und NLS (National Library Service for the Blind and Print Disabled) in den USA so unkompliziert einigen konnten“, meint Christiane Felsmann. „Nun erhalten wir von ihnen auf Anfrage die digitalen Daten eines gewünschten englischsprachigen Buches, drucken es bei uns und senden das Buch dann an die Nutzerinnen und Nutzer.“
Ein Problem musste allerdings noch gelöst werden. Da die Braille-Daten aus den USA und Großbritannien in einem anderen Zeichencode erstellt sind, müssen sie im dzb lesen mit einem „Code-Tabellen-Converter“ konvertiert werden. Das heißt, einige Zeichen müssen ausgetauscht werden. Erst wenn sie mit der Zeichentabelle des Druckers übereinstimmen, ist der Ausdruck möglich. Nach einigen Tests wurde eine kurze Verfahrensweise gefunden, die einen schnellen Druck ermöglicht.
Leipziger in engem Kontakt mit London und Washington
So können Janine und Jessica L. weiterhin das New Books Magazine vom RNIB beziehen und sich interessante Bücher heraussuchen. Diese bestellen sie dann in der Braille-Ausleihe des dzb lesen. Heiko Kampa und Anatoli Krüger aus der Braille-Ausleihe des dzb lesen haben in diesem Jahr schon einige Anfragen von Nutzerinnen und Nutzern bekommen, die diesen neuen Service sehr begrüßen. „Entweder uns erreichen konkrete Wünsche an Büchern oder wir suchen aus dem Online-Katalog des RNIB Bücher heraus und fordern dann die digitalen Daten vom RNIB und NLS an“, berichtet Heiko Kampa. „Dort haben wir schon konkrete Kontakte. Man kennt sich mit Namen. Die digitalen Daten sind kurze Zeit nach der Anfrage im Bibliothekssystem des dzb lesen zu finden, werden gespeichert und müssen dann natürlich noch gedruckt werden.“
Und noch einen Nebeneffekt erfährt die Zusammenarbeit des dzb lesen mit den Bibliotheken in London und Washington: Es wurde der Austausch von digitalen Braillenoten angeschoben. „Zur Erweiterung unseres Braille-Notenbestandes haben wir von der NLS-Musikabteilung in Washington schon einige Titel, unter anderem aus dem Bereich Rock und Pop bekommen“, erzählt Heiko Kampa. „Wir werden das Weihnachtsoratorium von J. S. Bach über den Atlantik schicken.“
Freundlicher Service und zeitnahe Ausleihe
Seit April 2021 wurden rund 20 englischsprachige, vor allem aktuelle Titel im dzb lesen gedruckt und zur Ausleihe angeboten. Neben Büchern von David Baldacci und Frederick Forsyth stehen auch Kinderbücher von Julia Donaldson und die Penderwick-Reihe von Jeanne Birdsall bereit. Alle verfügbaren neuen Titel sind in der aktuellen „dzb lesen-Bücherliste“ zu finden. In dieser haben auch Jessica und Janine L. schon einige interessante Bücher entdeckt. Zurzeit lesen sie gerade „Treasures on Earth“, den ersten Teil einer Trilogie von Jessica Stirling. Der historische Roman spielt im rauen Schottland des späten 18. Jahrhunderts. „Wir sind gerade im dritten Band von sieben und schon sehr gefesselt“, teilen die Zwillinge mit. „Da das Buch teils in altem Englisch geschrieben ist und viele speziell schottische Vokabeln verwendet werden, ist es eine tolle Herausforderung für uns.“ Ansonsten ist der Lesegeschmack der Zwillinge breit gefächert und geht von Krimis über historische Romane, Thriller und Fantasy bis hin zu Autobiografien.
Beiden gefällt der freundliche Umgang in der Braille-Ausleihe. „Wenn wir ein Anliegen haben, kümmert sich Herr Kampa oder Herr Krüger immer so schnell wie möglich darum. Wir sind einfach so glücklich, dass wir sowohl deutsch- als auch englischsprachige Braillebücher unkompliziert und zeitnah über das dzb lesen beziehen können“, lobt Jessica L. den Service. „Die letzte Bücherlieferung hat von der Bestellung an lediglich zwei Wochen gedauert.“
Die beiden jungen Frauen, die auf Arbeit ständig am PC sitzen, sind froh, in ihrer freien Zeit ein „echtes“ Buch in die Hand nehmen zu können. Es sei auch viel bequemer, vor dem Einschlafen im Bett noch gemütlich ein Buch zu lesen. Den zweiten und dritten Teil der Trilogie „Treasures on Earth“ werden die Zwillinge sicher noch im dzb lesen ausleihen.