Legasthenie: Wenn Buchstaben ähnlich aussehen und gleich klingen

GEsicht einer jungen Frau mit Brille und blonden, halblangen Haaren
Dr. Maria Rauschenberger

Seit Kurzem können neben blinden und sehbehinderten Menschen auch Menschen mit Legasthenie Medienangebote des dzb lesen ausleihen und kaufen. Etwa zwischen fünf und zehn Prozent aller Menschen haben eine Lese- und Rechtschreibstörung (LRS): auch Legasthenie genannt. Diese Menschen nehmen Bilder, aber auch Laute anders wahr und können deshalb die Sprache nicht gut in Schrift umsetzen – oder umgekehrt: die Schrift in Sprache.
Dr. Maria Rauschenberger (33 Jahre) forscht seit ihrer Promotion an der spielerischen Früherkennung der Lese- und Rechtschreibstörung. Für ihre Promotionsarbeit, die sie mit höchster Auszeichnung erfolgreich abgeschlossen hat, wurde sie zudem mit dem Deutschen Lesepreis 2017 ausgezeichnet. Die 33-Jährige hat ein Computerprogramm entwickelt, mit dem eine Lese- und Rechtschreibstörung bei Kindern bereits frühzeitig erkannt werden soll. Im Interview mit Gabi Schulze erzählt sie von diesem Suchspiel für Kinder und von ihrer eigenen Lese- und Rechtschreibstörung.

Was ist eine Lese- und Rechtschreibstörung und wie äußert sie sich?

In Deutschland sind 5 bis 12 Prozent von der Lese- und Rechtschreibstörung betroffen. Andere Quellen sprechen auch von einer Lese- und Rechtschreibschwäche oder Legasthenie. Eine LRS äußert sich erst negativ beim Erlernen der Schriftsprache (meist in der ersten oder zweiten Klasse). Schwierigkeiten zeigen sich dann meist in allen Schulfächern mit einem erhöhten schriftlichen Anteil. Hauptmerkmal einer LRS sind erhöhte Fehlerraten in der Rechtschreibung und/oder beim Lesen im Vergleich zu den Mitschülern der gleichen Altersklasse. Außerdem wurden Fehlertypen festgestellt, die sich visuell und/oder akustisch ähneln. Beispiele sind „b“ mit „p“ oder „g“ mit „ck“. Personen mit einer LRS haben jedoch keine verminderte Intelligenz, sondern laut jetzigem Forschungsstand eine veränderte visuelle und/oder akustische Wahrnehmung.

Selbst bei ähnlichen sozialen Strukturen, Intelligenzgrad und Trainingsaufwand haben Vergleichsstudien gezeigt, dass Kinder mit einer LRS sehr viel länger für gute Schulleistungen benötigen als die Kontrollgruppe ohne LRS. Oft werden Kinder mit einer LRS erst aufgrund ihrer sehr schlechten schulischen Leistungen in der vierten Klasse oder später entdeckt. Bis zur Diagnose ist der Leidensweg und die Frustration bei Kindern und Eltern bereits sehr hoch, da dem Kind vorgeworfen wird, nicht genug zu lernen und die Eltern beschuldigt werden, nicht genug zu helfen. Eine LRS kann von Personen bei entsprechendem Training kompensiert werden. Allerdings kann es im Erwachsenenalter trotzdem zu Schwierigkeiten kommen. Dies hängt unter anderem vom Grad der LRS, dem Zeitpunkt der Diagnose oder der Qualität des Trainings ab. Personen mit einer LRS zeigen aber erstaunliche Fähigkeiten und gute Strategien in der Kompensation der LRS.

Sie selbst haben eine Lese- und Rechtschreibstörung. Wann wurde bei Ihnen festgestellt, dass Sie Legasthenie haben? Und wie?

Bei mir wurde bereits in der zweiten Klasse aufgrund des Engagements meiner Mutter frühzeitig eine LRS diagnostiziert. Ich war schon immer sehr neugierig und habe alle mit Fragen gelöchert. Weshalb ich mit fünf Jahren auch nicht mehr im Kindergarten sein wollte – es war mir schlicht zu langweilig geworden. Als ich dann in der ersten Klasse nicht die Leistung meiner Mitschülerinnen und Mitschüler erbrachte, haben natürlich alle vermutet, dass es daran liegt, dass ich zu früh eingeschult wurde. Rückblickend kann ich sagen, dass ich als Kind nicht verstanden habe, was die Erwachsenen von mir wollten. Schließlich war ich am Unterricht rege beteiligt und hatte Spaß an den Unterrichtsstunden. Allerdings habe ich diese Zeichen (Buchstaben) nicht entziffern können und irgendwie sah alles sehr ähnlich aus und hörte sich ähnlich an. Das Konzept von Phonem und Graphen und die Struktur der Sprache haben sich mir einfach nicht erschlossen.

Die Diagnose des LRS-Tests war eindeutig: Legasthenie inklusive einer „Störung der akustischen Informationsverarbeitung“, welche dazu führt, dass ich ähnlich klingende Laute oder Wörter nur schwer bis gar nicht unterscheiden kann.

Welche Schwierigkeiten hatten Sie in der Schule durch ihre Lese- und Rechtschreibstörung?

Mir war die Diagnose als Kind ziemlich egal. Aber sie führte dazu, dass meine Eltern anders mit meiner schlechten Deutschnote bzw. Rechtschreib-/Leseleistung umgingen. Ich bekam viel Nachhilfe und war auch zwischenzeitlich in einer speziellen Fördergruppe. Die Grundschule war geprägt von schlechten Noten, die Hausaufgaben ein Desaster und ich wiederholte die zweite Klasse. Aber aufgrund der frühen Diagnose war ich nicht frustriert, sondern immer noch ehrgeizig, wissbegierig und hatte Spaß beim Lernen.

Der Deal mit meiner Mama war: Ich strenge mich an und wenn es dann nicht klappt, ist es okay. Fächer wie Musik, Kunst aber auch Mathe, in denen ich sehr talentiert war, werden auf keinen Fall vernachlässigt. Das bedeutete konkret, ich konnte mit einer sehr schlechten Note in Deutsch nach Hause kommen, aber der Ordner musste trotzdem gepflegt sein und eine schlechte Note in Musik war nicht akzeptabel. Rückblickend eine Meisterleistung meiner Mutter. Sie hat meinen Ehrgeiz erkannt und mir Ziele gesteckt, die ich erreichen konnte.

Keine LRS ist wie die andere. Aus meiner Sicht ist es wichtig, sich die Stärken und Schwächen der Kinder anzuschauen und individuell zu fördern. Mit dieser Ansicht bin ich nicht alleine. Ich habe ca. 4 bis 6 Jahre intensive Unterstützung erhalten und auch danach habe ich kontinuierlich weiter gelernt.

Sie erforschen, ob es schon vor dem Eintritt in die Schule möglich ist, Lese- und Rechtschreib-Schwierigkeiten zu erkennen. Worum geht es genau?

Ein Spiel spielen und danach wissen, ob eine Lese- und Rechtschreibstörung vorliegt. Das ist meine Promotionsidee. Da Kinder im Vorschulalter meist noch keine Buchstaben oder Wörter gelernt haben, sind die herkömmlichen Rechtschreibtests keine Option. Es ist bekannt, dass Betroffene einer LRS beim Hören Laute und Wörter verändert wahrnehmen. Deshalb werden bekannte Spielkonzepte (z. B. ein Suchspiel) umfunktioniert und die Interaktion von Benutzern gemessen. Eine frühzeitige Erkennung von Kindern mit einer LRS ist wichtig, um Betroffenen mehr Zeit zum Lernen einzuräumen. Weniger Frustration beim Lernen und ein gestärktes Selbstbewusstsein sind die Resultate, so dass ein Ausgleich zum mühsamen Erlernen der Schriftsprache geschaffen werden kann und Berufschancen entstehen können.

Sie haben ein Computerspiel für PC, Tablet und Handy, mit dem spielerisch getestet wird, wie Kinder etwas wahrnehmen. Wie genau funktioniert das?

In dem Online-Spiel „DGames“ werden musikalische und visuelle Elemente aufbereitet. Es geht um die visuelle und auditive Wahrnehmung in zwei unterschiedlichen Spielen. Dabei wurden gezielt Aufgaben aus den Erkenntnissen der Neurologie und Psychologie abgeleitet. Bei beiden Spielen handelt es sich um ein Suchspiel. Beim visuellen Spiel wird zunächst kurz ein Symbol bzw. Bild gezeigt. Anschließend erscheint ein Spielfeld mit 4 oder 9 verschiedenen Symbolen bzw. Bildern, die alle so ähnlich aussehen. Die Teilnehmerin bzw. der Teilnehmer klickt so schnell wie möglich auf das richtige Symbol. Danach erscheint ein neues Spielfeld. Die Teilnehmerin bzw. der Teilnehmer haben 15 Sekunden Zeit, möglichst schnell recht viele richtige Symbole zu finden. Das akustische Spiel ist fast genauso, nur dass nun ein Hörbeispiel gefunden werden muss.

Warum forschen Sie gerade zu diesem Thema?

Ich weiß, wie schwer es ist die Lese- und Rechtschreibstörung zu kompensieren. Ich kenne persönlich noch weitere Personen, die dies ebenfalls geschafft haben und sehr erfolgreich sind. Um weitere Personen mit LRS zu fördern, muss Betroffenen mehr Zeit zum Erlernen der Sprache verschafft werden. Außerdem möchte ich gerne dem Stigma entgegenwirken‚ Personen mit einer LRS seien faul oder blöd.

Kurze Vita

Dr. Maria Rauschenberger absolvierte ihren Bachelor of Engineering Medientechnik und anschließend ihren Master im Online-Studiengang Medieninformatik an der Hochschule Emden/Leer. Sie promovierte an der Universität Pompeu Fabra in Barcelona (Spanien) und wurde für Ihre Forschungsarbeit zur spielerischen und sprachenunabhängigen Früherkennung der Lese- und Rechtscheibstörung mit dem renommierten Deutschen Lesepreis ausgezeichnet. Jetzt hofft sie trotz COVID-19 auf weitere Teilnehmerinnen und Teilnehmer für ihre Studien.

Aufruf: Studienteilnehmer gesucht!

Für die weitere Forschung werden aktuell Teilnehmer im Alter von 8 bis 12 Jahren mit und ohne eine Lese- und Rechtschreibstörung gesucht. Für ihre persönliche Einladung zur Teilnahme am Forschungsprojekt schreiben Sie bitte eine E-Mail an teilnehmerforschung@gmail.com oder benutzen Sie das Kontaktformular auf der Webseite unter www.mariarauschenberger.net. Die im Rahmen dieser Studie erhobenen Daten und persönlichen Mitteilungen werden vertraulich behandelt. Des Weiteren wird die Veröffentlichung der Ergebnisse der Studie in anonymisierter Form erfolgen, d. h. ohne dass Daten einer Person zugeordnet werden können.

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